GFK oder die Magie der Empathie
Onorina Magri unterrichtet seit 8 Jahren an der Primarschule Zentrum in Biel im Zyklus 1 & 2. Weiter bietet sie das Freifach «Gewaltfreie Kommunikation» an, in dem Schülerinnen und Schüler während einem halben Jahr zu «Giraffenkindern» ausgebildet werden. Nach der Ausbildung sind die Kinder befähigt, selbstständig Konflikte zu lösen. Ergänzt wird das GFK-Angebot durch die «Giraffenstunde», zu der sich in Konflikte verwickelte Kinder anmelden können. Von Onorina Magri werden die Kinder achtsam durch die vier Schritte der Gewaltfreien Kommunikation nach Rosenberg geführt. Wir haben mit ihr über die Echtheit von Begegnungen, die Bedeutung von Bedürfnissen und das Feuer der Lehrpersonen gesprochen.
Gewaltfreie Kommunikation (GFK) nach Marshall B. Rosenberg
Die GFK geht auf den amerikanischen Psychologen Marshall B. Rosenberg zurück. In der GFK werden Beobachtungen wertfrei geschildert, Bedürfnisse kommuniziert und Bitten angebracht. Diese Art der Kommunikation soll verbinden, ein empathisches und verständnisvolles Miteinander ermöglichen und bewirken, dass Menschen gerne zu ihrem eigenen und zum Wohlbefinden ihres Gegenübers beitragen.
Die vier Schritte der GFK
Beobachtung: Die Situation wird bewertungs- und beurteilungsfrei geschildert.
Gefühle: Es werden Gefühle geäussert, die in der konkreten Situation erlebt wurden.
Bedürfnis: Es wird kommuniziert, welches Bedürfnis hinter den Gefühlen steht.
Bitte: In einem letzten Schritt wird eine Bitte direkt an das Gegenüber gerichtet.
Interview mit Onorina Magri
Onorina, wann bist du zum ersten Mal in Kontakt mit der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) gekommen?
Im Rahmen eines Comenius-Projekts reiste ich vor einigen Jahren nach Wien, wo ich dem Dozenten und Psychotherapeuten Roman Ottenschläger begegnete, der mir einen ersten Einblick in die GFK gab. Ich habe sofort gespürt, dass mich das Thema begeistert und so habe ich einen ersten Kurs besucht. Danach habe ich gemerkt: Das ist es! Aus einem Kurs wurden viele.
Rosenberg sagte, die GFK sei keine Technik, sondern eine Haltung. Was bedeutet das?
Damit ist gemeint, dass die Worte selbst nur einen kleinen Teil der Botschaft ausmachen – der grösste Teil der Kommunikation geschieht nonverbal. Natürlich haben die Worte, die wir sagen, eine Bedeutung, aber es kommt auf deine Haltung an. Du kannst auch einmal laut sein oder fluchen und das trotzdem in der Haltung tun von: «Ich sehe dich und ich sehe auch mich.» Die Lehre von Rosenberg umfasst nicht nur die vier Schritte der Gewaltfreien Kommunikation, sie ist vielmehr ein Selbstreflexionsmodell. Sind wir in einer Situation getriggert worden, so gilt es sich danach – wenn sich die inneren Wogen geglättet haben – die Frage zu stellen, um welche Bedürfnisse es uns eigentlich gegangen ist.
Das Gegenüber spürt also, mit welcher Haltung wir uns an einem Gespräch beteiligen?
Ja, das habe ich selbst letzthin eindrücklich in einem Feedback gespürt, das ich von einer Englischklasse bekommen habe, die ich unterrichte. Die Schülerinnen und Schüler sagten mir, dass sie es schätzen, dass ich im Unterricht so einfühlsam sei. Darum geht es: Wie gehen wir mit dem Gegenüber um? Üben wir Macht über das Gegenüber aus oder begegnen wir uns auf Augenhöhe?
Was bedeutet GFK für dich persönlich?
Dass ich meiner inneren Stimme Gehör schenke. Gehe ich gerade gewaltvoll mit mir um? Sind da Gedanken in mir wie «Ich bin unfähig», «So peinlich» oder «Ich muss jetzt Gas geben, ich habe keine Zeit für Erholung»? GFK bedeutet für mich, dass ich es schaffe, mir wirklich zuzuhören und zu erforschen, welche Bedürfnisse ich gerade habe. So verstehe ich besser, warum ich so handle wie ich handle und ich öffne den Raum, um darüber nachzudenken, ob es vielleicht noch eine andere, gesündere Strategie gibt, um mir das zu erfüllen, was mir wichtig ist. Erst wenn es mir gelingt, mir selbst gegenüber diese offene, neugierige Haltung einzunehmen, kann ich auch mit meinem Gegenüber achtsam umgehen.
Man muss also bei sich selbst beginnen.
Ja, und das ist das Schwierigste an dem Ganzen. Es fällt mir viel leichter, im Aussen Verständnis zu zeigen. Ich übe immer wieder, mich selbst liebevoll zu fragen: «Hey, wie geht es mir denn damit?» In der GFK gibt es keine Ziele, die es zu erreichen gilt. Es geht nur um die Selbstreflexion, um ein Bewusstwerden. Wie spreche ich mit mir? Ich bin durch die GFK eine Detektivin geworden; ich suche nach Hinweisen. Schreit mich zum Beispiel jemand an, tauchen in mir die Fragen auf: «Was ist dir wohl gerade so wichtig? Was erfüllst du dir gerade nicht? Was brauchst du?» Ich selbst habe durch die Arbeit mit den Prinzipien der GFK gemerkt, wie oft ich mich im Tun verliere. Jetzt werde ich hellhörig, wenn ich in mir die Wörtchen «muss» oder «sollte» höre. Das ist für mich eine Einladung, zu erspüren, ob ich der aktuellen Tätigkeit überhaupt ein inneres Ja entgegenbringen kann oder ob ich es nur tue, weil ich muss oder sollte.
Ist es dieser achtsame Umgang mit sich selbst, der dich an der GFK so begeistert?
Diesen Umgang nehme ich als sehr sinnvoll wahr – auch in meiner Arbeit mit Schülerinnen und Schülern oder generell anderen Menschen. Der GFK-Prozess entschleunigt mich. Ich halte inne in meinem Tun und frage mich, wie es mir gerade geht und was ich brauche. Diese Pause zwischen Reiz und Reaktion, das ist Freiheit. Weiter begeistert mich, dass die GFK keine Tipps gibt. Es gibt kein «Ich habe recht und du liegst falsch», sondern wir beide haben eine Wahrheit und wir schauen, wo wir mit dieser hinwollen. Diese Haltung öffnet einen Raum, in dem die Magie der Empathie zum Ausdruck kommt. Wir sind alle miteinander verbunden, da wir uns alle die gleichen Bedürfnisse erfüllen wollen. Natürlich wählt jede und jeder dazu andere Strategien. Am gesündesten ist es, selbst die Verantwortung für die eigenen Bedürfnisse zu übernehmen und diese offen zu kommunizieren.
Kann man sich überhaupt alle Bedürfnisse selbst erfüllen?
Das hört sich auf den ersten Moment vielleicht seltsam an, aber ja. Wie soll man sich selbst das Bedürfnis nach Zugehörigkeit oder Liebe erfüllen? Aber es funktioniert, es kommt nur auf die Strategie an.
Kann eine Strategie auch sein, einen Abend mit einer lieben Freundin zu verbringen, wenn man das Bedürfnis nach Austausch hat?
Zum Beispiel. Soziale Bedürfnisse können aber auch über die Selbstliebe erfüllt werden. Stärke ich diese, bin ich dann vielleicht so voller Liebe, dass sich mein Bedürfnis nach einer Liebesbeziehung entspannt. Oder Zugehörigkeit; dieses Bedürfnis kann auch erfüllt sein, wenn ich eine innere Überzeugung von «Ich bin in der Gemeinschaft willkommen» habe – auch wenn ich mich gar nicht mit jemandem verabredet habe.
Erzähle mir mehr über das GFK-Freifach, das du unterrichtest. Was lernen die Kinder bei dir?
Sie lernen zu leiten. Ich habe im letzten halben Jahr 7-, 8-jährige Kinder dabei beobachtet, wie sie aktiv durch die vier Schritte führen, sich trauen zu sagen: «Stopp, ein Satz reicht, jetzt ist das andere Kind dran.» Dabei sind die Kinder strikt und doch liebevoll. Sie lernen, einen Raum zu halten und dabei eine neutrale Position einzunehmen; sie hören beiden Parteien abwechslungsweise aufmerksam zu. Und sie übersetzen. Wenn ein Kind sagt: «Du provozierst mich!», dann übersetzen die Giraffenkinder das in Fragen: «Was genau macht X, dass du dich provoziert fühlst? Was empfindest du dabei?» Der ganze Prozess, bei dem sich die Kinder wieder annähern und ihren Konflikt lösen, dauert ca. 15 Minuten.
Wie nachhaltig ist die Ausbildung zum Giraffenkind?
In der Ausbildung werden die Kinder gestärkt. Ich bin davon überzeugt, dass die Kinder – egal, ob sie das Gelernte jemals anwenden werden oder nicht – viel über sich selbst und andere lernen. Selbst die Kinder, die oft in Streitereien verwickelt sind, nehmen etwas mit. Sie gehen würdevoller mit sich selbst um, so ist mein Eindruck.
Was meinst du mit einem würdevollen Umgang?
Dass Kinder erkennen, dass sie in Ordnung sind, so wie sie sind. Auch Giraffenkinder müssen nicht immer brav sein, auch sie dürfen mal wütend sein oder laut werden. Wird in der Schule würdevoll mit den Kindern umgegangen, so lernen sie, auch ihrem Umfeld würdevoll zu begegnen – das ist Gewaltprävention.
Warum sind eigentlich gerade die Giraffe und der Wolf Symbole für die beiden Kommunikationsstile der GFK?
Die Giraffe ist das Landtier mit dem grössten Herzen und mit ihrem langen Hals hat sie einen guten Überblick. Im Gegensatz dazu erschreckt man vielleicht, wen man den Wolf sprechen hört. Vereinfacht gesagt; der Wolf ist noch nicht so geübt in der Giraffen-Sprache. Aber auch er hat im Grunde ein gutes Herz.
Also ist weder die Giraffe gut noch der Wolf schlecht?
Genau, die beiden Kommunikationsstile werden nicht gewertet. Der Wolf hat eine wichtige Funktion und den Wolfspelz haben wir uns oft als Überlebensstrategie angezogen. Wenn ich den Wolf in mir sprechen lasse, kann ich erkennen, um was es mir gerade wirklich geht. Es geht nicht darum, nett zu sein, sondern echt. So werden authentische Begegnungen möglich.
Welche positiven Veränderungen beobachtest du sonst noch bei den Giraffenkindern?
Ruhige Kinder trauen sich plötzlich, eine Grenze aufzuzeigen und Kinder, die eher laut unterwegs sind, werden plötzlich ruhig. Die Kinder lernen, sich selbst und ihre Bedürfnisse besser wahrzunehmen, aber auch die ihres Gegenübers. Sie lernen Empathie, indem sie zum Beispiel fragen: «Wie geht es dir damit, dass ich dir gesagt habe, dass ich gerade nicht mit dir spielen möchte?» Zudem tragen die Kinder dazu bei, dass der Umgang an Schulen friedlicher wird. Wir dürfen ihnen zutrauen, dass sie Konflikte lösen können, auch wenn sie nicht immer die perfekten Worte finden.
Sollten wir Konflikten überhaupt so viel Raum geben?
Gefühle sind zeitlos. Versuchen wir, Konflikte zu umgehen, so wird uns irgendjemand früher oder später triggern und die volle Ladung unserer aufgestauten Gefühle abbekommen. Du kannst dir selbst etwas Gutes tun, indem du dich dir selbst zuwendest, um herauszufinden, was in dir los ist, und Konflikte ansprichst.
Können Konflikte auch ohne das darin verwickelte Gegenüber gelöst werden?
Mir persönlich gelingt es nicht, jeden Konflikt anzusprechen. Damit ich den Konflikt aber nicht in mir begrabe, spreche ich mit einer unbeteiligten Person darüber, die mir den Raum halten und im besten Fall auch die unerfüllten Bedürfnisse hinter meinen Gefühlen erfragen kann. Durch ein solches Gespräch wird auch mein Bedürfnis nach Empathie gestillt. Entscheide ich mich danach, doch noch das Gespräch mit der Konflikt-Person zu suchen, werde ich in der Begegnung aufgeräumter sein, da ich mich besser verstehe, meine Wut sich in Gelassenheit verwandelt hat und mir bereits Verständnis geschenkt wurde. Die Essenz der GFK ist die Bedürfnisebene. Bedürfnisse wollen vor allem gehört und anerkannt werden und müssen nicht erfüllt werden.
Neben der Ausbildung zum Giraffenkind bietest du auch die Giraffenstunden an, in denen du Kinder durch die vier Schritte der Konfliktlösung begleitest. Welche Situationen sind dir besonders in Erinnerung geblieben?
Die berührendsten Momente sind die, in denen Tränen fliessen dürfen. So kam zum Beispiel ein Mädchen mit ihrem älteren Bruder zu mir in die Giraffenstunde, weil es das Mädchen störte, dass ihr Bruder sie schlägt. Dieser weinte und meinte: «Weisst du, du tust so, als wäre ich gar nicht da!» Es wurde klar, dass er das Bedürfnis hat, von seiner Schwester begrüsst zu werden, wenn sie ihn sieht. Dieser Konflikt konnte nachhaltig gelöst werden – die beiden begrüssen sich noch heute auf dem Schulgang. Die Giraffenstunde ist ein geschützter Raum, da dürfen Gefühle offen gezeigt werden. Ich habe auch noch nie miterlebt, dass ein Kind für seine Gefühle ausgelacht wird. Wenn sich ein starkes Kind plötzlich von seiner verletzlichen Seite zeigt, sind die anderen Kinder berührt. Ich bin überzeugt; wenn diese Art von Kommunikation von klein auf geübt wird, dann geschieht dieses ungesunde Anstauen von Konflikten gar nicht.
Wenn ein Kind seine verletzliche Seite zeigt, dann kann das andere Kind gar nicht angreifen.
Ja, das kann sogar mitten in einem aktiven Streit geschehen. Da kann es geschehen, dass ich hinter der Wut eine Trauer wahrnehme. Frage ich direkt danach, dann kann es passieren, dass die Kinder berührt sind davon, auch wenn sie sich einige Momente vorher noch die Köpfe hätten abreissen können. Das ist die Magie; dieses gegenseitige Spiegeln der Gefühle. Meistens ist es Trauer oder Angst, die nicht angesprochen wird. Wut zu zeigen, fällt den Kindern meistens leichter.
Können Erwachsene die Prinzipien der GFK auch im Umgang mit Kindern anwenden?
Natürlich. Auch wenn es in hundert Situationen nur zweimal möglich ist, gewaltfrei zu kommunizieren; das Kind erlebt zweimal eine solche Situation. Das macht einen Unterschied, genauso wie Kinder nur eine Person brauchen, die ihnen bedingungslose Liebe entgegenbringt, um Resilienz zu entwickeln. Das Wichtigste ist es, Kindern auf Augenhöhe zu begegnen – nicht von Erwachsene zu Kind, sondern von Mensch zu Mensch.
Was ist heute das Wichtigste, das Kinder und Jugendliche im Kindergarten oder in der Schule lernen sollten?
Empathisches Zuhören. Dies ermöglicht eine Verbindung zwischen den Menschen und ist somit ein Beitrag zum Weltfrieden.
Wie sieht Unterricht in deiner Idealvorstellung aus?
Ideal wäre es, die Kinder morgens zu versammeln und dann zu schauen, was ansteht. Wer braucht Hilfe bei einem Projekt? Wer hat vielleicht etwas mitgenommen und möchte dies den anderen zeigen oder beibringen? Die Gruppen werden nach Interessen gebildet. Die Kinder, die mehr Struktur brauchen, werden von den Lehrpersonen unterstützt. Auch Ziele, wie «Ich möchte gerne ins Gymi» werden begleitet. Das hört sich nach einer komplizierten Sache an. Ich bin aber überzeugt, dass eine solche Schule nach einer anfänglichen Umstellungsphase zu einem Selbstläufer werden würde. Die Kinder würden so mehr Sinnhaftigkeit erfahren – und die Lehrpersonen ebenso.
Also mehr Freiheit, um die eigenen Interessen zu erkunden?
Ja, und auch die Lehrpersonen wären wieder mit mehr Feuer dabei. Ich unterrichte zum Beispiel gerne Mathe, aber ich finde nicht, dass alle gleichzeitig auf der Seite 7 arbeiten müssen. Zudem würde ich mir eine engere Zusammenarbeit mit den Eltern wünschen. Es wäre toll, wenn jeden Tag Eltern anwesend sein und ihre eigenen und die anderen Kinder unterstützen könnten. Dies würde auch das gegenseitige Vertrauen zwischen Eltern und Lehrpersonen stärken.
Was wünschst du dir für die Zukunft der Bildungslandschaft in der Schweiz?
Ich wünsche mir, dass jede Lehrperson ihr Feuer, ihre Vision, ihr Potenzial und ihre Talente lebt. Es braucht mehr Freiwilligkeit und wir müssen nicht Angst haben, dass dann niemand mehr in die Schule kommt. Kinder wollen lernen und sie wollen mit anderen Kindern zusammen sein.
Ich wünsche mir von den Menschen, die Entscheidungen fällen, viel mehr Offenheit und Neugier. Das Schulsystem muss weder zusammenbrechen noch verschwinden, aber die Lehrpersonen sollten stärker miteinbezogen werden und sie brauchen Räume, in denen sie sich entfalten können. Mit dem Lehrplan 21 haben wir einen wichtigen Schritt in diese Richtung gemacht. Wir haben in Bezug auf den Unterricht mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Ich beobachte jedoch, dass viele Lehrpersonen aus Angst und Gewohnheiten in vertrauten Bahnen unterrichten. Ich wünschte mir für die Lehrpersonen mehr Mut, so zu leben und zu unterrichten, wie es für sie stimmig ist. Das ist es auch, was ich durch die GFK gelernt habe: echt zu sein und integer zu unterrichten.