Grosse Kindergartenklassen mit grossem Potenzial
Rahel Johner-Giger hat sich an der NMS Bern zur Lehrerin ausbilden lassen. Seit 5 Jahren unterrichtet sie eine Kindergartenklasse in Bargen BE. Sie ist Mama von drei Söhnen im Schul- und Vorschulalter. Neben ihrer Tätigkeit als Lehrerin bewirtschaftet sie zusammen mit ihrem Mann einen Landwirtschaftsbetrieb. In ihrer Freizeit ist Rahel gerne mit ihrer Familie in den Bergen unterwegs. Dass die Kinderzahlen an der Schule Bargen von Jahr zu Jahr stark schwanken, verlangt von ihr und dem ganzen Team viel Flexibilität und einen kreativen Arbeitsstil. Wir haben uns mit Rahel getroffen und mit ihr darüber gesprochen, wie es für die Kinder selbst ist, Teil einer so grossen Klasse zu sein; über welche mittel- und langfristigen Lösungen diskutiert wurde und warum sie sich mehr Zeit für Lehrpersonen wünscht.
Rahel, du unterrichtest in einem Kindergarten, in dem die Kinderzahlen jeweils von einem Schuljahr zum nächsten stark schwanken. Wie kommt es dazu?
In Bargen gibt es nur einen Kindergarten. Da nicht jedes Jahr gleich viele Kinder zur Welt kommen, schwankt die Anzahl Anmeldungen, die wir bekommen. In grösseren Städten wie Bern, wo es mehrere Kindergärten gibt, können die schwankenden Zahlen besser aufgefangen werden. Natürlich kann es auch in Bern zu grösseren Klassen kommen, aber so wie ich es mitbekommen habe, sind die Zahlen stabiler. Bei uns in Bargen kamen letztes Jahr 28 Kinder in den Kindergarten und dieses Jahr sind es noch 18.
Welche Herausforderungen gilt es mit 28 Kindern zu bewältigen?
Unsere Klasse ist sogar auf 30 Kinder angewachsen. An diesem Punkt bekamen wir die Erlaubnis, einen zweiten Kindergarten zu eröffnen. Zusammen mit der Schulleitung entschieden wir uns dagegen, weil diese Lösung für uns nur bei konstant hohen Kinderzahlen sinnvoll wäre. Ausserdem wollten wir die Klasse nicht mitten im Schuljahr auseinanderreissen – die Bewilligung für die Klasseneröffung kam im Februar. Stattdessen setzten wir uns dafür ein, dass wir jeden Morgen zu zweit unterrichten dürfen. Am Dienstagmorgen war jeweils eine Halbklasse in der Turnhalle und am Donnerstagmorgen die andere. Am Mittwoch kamen nur die Kinder aus dem 2. Kindergartenjahr und die Freitage verbrachten wir oft gemeinsam im Wald. Die letzten anderthalb Jahre haben wir zu viert nach diesem Rhythmus unterrichtet. Uns ist erst kürzlich bewusst geworden, was wir da eigentlich geleistet haben. Für mich war es ganz normal, dass mich meine Kollegin auch an meinem freien Tag erreichen konnte, wenn sie etwas brauchte. Wir haben jeden Tag in einer anderen Zusammensetzung gearbeitet und waren deswegen auf diese regelmässigen Absprachen angewiesen. Wir waren ein tolles Team und wir haben auch in den Ferien oft zusammen den Unterricht vorbereitet und konnten uns so gegenseitig mit Ideen inspirieren. Jetzt unterrichten wir noch zu zweit und ich musste mich am Anfang daran gewöhnen, dass jetzt wieder weniger Austausch stattfindet. Da die Arbeitstage anders aufgeteilt sind, reicht ein Übergabegespräch pro Woche, welches wir in der Regel per Telefon machen.
Welche Vor- und Nachteile hat es für die Kinder, wenn sie Teil einer so grossen Klasse sind?
Die grössten Bedenken haben die Eltern geäussert. Ihre Sorge war, dass ihr Kind vielleicht keine enge Beziehung zu den Kindergartenlehrpersonen aufbauen kann, weil es nicht von einer sondern gleich von vier unterrichtet wird. Spannend, dass es oftmals gerade die Kinder dieser Eltern sind, die es nun schade finden, dass wir nur noch zu zweit sind. Wir Lehrpersonen harmonieren nicht mit jedem Kind gleich gut und so ist es für uns selbst aber auch für die Kinder toll, wenn wir ihnen gleich vier verschiedene Bezugspersonen anbieten können. Die Kinder haben diese Abwechslung geschätzt. Da es mit so vielen Kindern auch einmal laut und hektisch werden kann, haben wir das hintere Zimmer bewusst als Rückzugsort eingerichtet. Dort konnten die Kinder Bilderbücher anschauen, malen oder einer sonstigen ruhigen Aktivität nachgehen. Keines der Kinder hat unter der grossen Klassengrösse gelitten oder sich ständig nicht wohlgefühlt. Es haben alle ihren Platz in diesem besonderen Setting gefunden. Und gleichzeitig fiel es uns Lehrpersonen schwer, uns für jedes Kind individuell Zeit zu nehmen und den Überblick zu behalten, wer gerade an welchem Projekt arbeitet. Natürlich haben wir Wege gefunden, Lernstände zu erfassen und zu dokumentieren, wir mussten aber auch da kreativ sein und Neues ausprobieren. Jetzt, mit einer kleineren Klasse, weiss ich von fast jedem Kind auswendig, wo es gerade steht und welchen Bedarf an Unterstützung es noch hat.
Über welche mittel- und langfristigen Lösungen habt ihr diskutiert?
Über ganz viele (lacht). Für uns war klar, dass wir nicht so weitermachen wollen wie in den letzten anderthalb Jahren. Während dieser Zeit war es für uns stimmig, so zu arbeiten, aber jetzt spüren wir als Team, dass wir uns für eine Lösung entscheiden wollen, die unsere Ressourcen schont. Wir haben bereits in der Vergangenheit über die Einführung einer Basisstufe gesprochen. Darin sehen wir den grossen Vorteil, dass Kinder die Freiheit bekommen, in ihrem eigenen Tempo zu lernen; Lerninhalte dann aufzunehmen, wenn sie auch wirklich dafür bereit sind.
Die Einführung einer Basisstufe braucht allerdings Zeit. Bis es soweit ist, möchten wir das Modell der Mehrjahrgangsklasse als Rettungsanker einsetzen. Erst hiess es, dass diese Zwischenlösung nicht umsetzbar sei. Unser Schulinspektor hat sich jedoch bei der Bildungsdirektion für uns eingesetzt und wir haben uns sehr gefreut, als dann doch die Bewilligung kam. Wir dürfen während den nächsten maximal drei Jahren zwei Klassen führen, in denen Kinder aus dem Kindergarten und der 1. Klasse gemeinsam unterrichtet werden. Wir hoffen, dass wir die Basisstufe bereits in zwei Jahren einführen können – das hängt allerdings davon ab, ob das dafür benötigte Budget an der nächsten Gemeindeversammlung bewilligt wird oder nicht.
Du wirst also nach den Sommerferien zusätzlich Kinder aus der 1. Klasse bei dir aufnehmen.
Genau. Ich werde an beiden Klassen jeweils 5 Lektionen unterrichten. So sehe ich alle Kinder, die jetzt Teil meiner Kindergartenklasse sind, nächstes Jahr wieder. Damit sich die Kinder bereits etwas auf das neue Modell einstellen können, haben wir im laufenden Schuljahr immer wieder Änderungen vorgenommen. Wir essen z. B. den Znüni zusammen im Kreis, danach gehen alle Kinder raus. Dies ist in einigen Kantonen normal, bei uns im Kanton Bern aber nicht. Der Platz rund um den Kindergarten ist den Kindergartenkindern und den Schülerinnen und Schülern der 1. Klasse vorbehalten. Die Kindergartenkinder, welche ihre Pausenzeit mit älteren Schülerinnen und Schülern verbringen wollen, dürfen sich auf den grossen Pausenplatz beim Schulhaus begeben.
Mit welchen Gedanken und Gefühlen siehst du dieser Lösung entgegen?
Ich freue mich sehr darauf. Seit meinem ersten Arbeitstag spreche ich von der Basisstufe. Nicht unbedingt, weil ich glaube, dass das für alle Schulen das beste Modell ist. Es kommt sehr auf den Standort und auch auf die Kinder an. Viele Kinder in Bargen kommen aus sehr bildungsnahen Familien; sie sind neugierig und möchten bereits im zweiten Kindergartenjahr schreiben und rechnen lernen. Es ist manchmal sehr herausfordernd, die Kinder nicht zurückzuhalten und gleichzeitig dem Stoff der 1. Klasse nicht zu sehr vorzugreifen. Wird in einer Basisstufe unterrichtet, kann besser auf das Lerntempo der einzelnen Kinder eingegangen werden. Dies ist nicht nur für schnelle Lernende von Vorteil, sondern auch für Kinder, die noch ein halbes Jahr mehr Zeit brauchen, um einen gewissen Lernfortschritt zu erzielen. Es bringt nichts, Kinder mit «sollte» und «müsste» an das Lernen heranzuführen – wenn sie bereit sind, werden sie sich das Wissen aneignen. Ich freue mich sehr darauf, die Kinder während aktuell 3, später hoffentlich 4 Jahren auf ihrem Lernweg begleiten zu dürfen. Wie in jeder Klasse wird es Kinder geben, die mehr Begleitung und Unterstützung brauchen, und andere, die genau wissen, was sie lernen und erarbeiten möchten. Aber in jedem Kind steckt ein gesunder Lern- und Entdeckungstrieb, den ich sehr gerne unterstütze und fördere, damit die Freude am lebenslangen Lernen erhalten bleibt.
Wie haben die Eltern darauf reagiert, dass ihre Kinder kurzfristig Teil einer Mehrjahrgangsklasse sein werden und mittelfristig Teil einer Basisstufe?
Wir haben die Eltern ziemlich kurzfristig informiert, da der Termin für den Elternabend bereits stand, wir aber noch den schriftlichen Entscheid der Bildungsdirektion abwarten mussten. Nach dem Elternabend wurde vereinzelt die Sorge laut, dass die älteren Kinder in einer Mehrjahrgangsklasse vielleicht untergehen und unterfordert sind, wenn sie sich das Klassenzimmer mit jüngeren Kindern teilen müssen. Vielen Eltern ist nicht bewusst, wie stark sich Schule in den letzten 20 Jahren gewandelt hat. Schule bedeutet nicht mehr, dass eine Lehrperson vorne an der Wandtafel steht und die Schülerinnen und Schüler brav in geordneten Pultreihen sitzen.
Heute geschieht ganz viel Lernen durch freies Spiel. Es ist uns also auch ein Anliegen, den Eltern die Schule von heute näherzubringen. Wir werden nach den Sommerferien starten und nach den Herbstferien an einem Infoanlass für die ganze Gemeinde aufzeigen, wie das neue Modell funktioniert und wie wir es in der Praxis umsetzen. Vielleicht werden wir zur Untermalung kurze Filmausschnitte aus dem Klassenzimmer mitbringen. Viel haben wir schon erreicht, wenn es uns gelingt, den Kindern einen tollen Start in die Mehrjahrgangsklasse zu ermöglichen.
Wie haben die Kinder auf die Neuigkeiten reagiert?
Die Kinder begegnen sich bereits in den Pausen und sie lieben es. Für sie ändert sich nicht viel und selbst die Kindergartenkinder, die im nächsten Schuljahr im Schulzimmer unterrichtet werden, verbringen ihre Tage in einem Raum, der genauso farbig und fröhlich eingerichtet ist wie der Kindergarten. Kinder sind sehr anpassungsfähig.
Was ist das Wichtigste, was Kinder im Kindergarten und in der Schule lernen sollten?
Wir geben den Kindern mit, gut auf sich selbst acht zu geben und dabei auch die Bedürfnisse der anderen im Blick zu behalten. Sie dürfen lernen, sich immer wieder selbst zu reflektieren. Und zu spüren, wie es ihnen geht; mit sich selbst, aber auch mit dem, was sie machen und wo sie gerade stehen. Kinder haben dieses intuitive Verständnis für ihre Bedürfnisse ganz stark und unsere Aufgabe als Lehrpersonen ist es, sie dort abzuholen und ihnen die passenden Lernimpulse zu geben. Wenn das Kind aus eigenem Interesse lernt, geschieht das Lernen viel nachhaltiger. Natürlich gibt es auch Kinder, die wir stärker bei der Hand nehmen müssen, weil sie sich vielleicht nicht so viel zutrauen oder weniger gut spüren, wo sie gerade stehen und was sie interessiert. Ich wünsche mir, dass die Kinder den Entdeckungstrieb, den sie mitbringen, niemals verlieren.
Was wünschst du dir für die Bildungslandschaft der Schweiz?
Zeit! Ich wünsche mir, dass wir uns wirklich Zeit für die Kinder nehmen dürfen, um sie zu unterstützen und ihre Fortschritte zu würdigen. Das bedingt unter anderem, dass wir zu zweit unterrichten. Ich glaube, dass dies auch das Vertrauen der Eltern in das Schulsystem stärken würde. Für gewisse Eltern ist der Kindergarten der erste Ort, dem sie ihr Kind übergeben, in dem der Betreuungsschlüssel deutlich höher ist als zuhause. Es ist ganz normal und auch gesund, dass sich Eltern fragen, ob die Lehrpersonen, die nun so viel Zeit mit ihrem Kind verbringen, ihren Job gut machen. So ging es mir auch mit meinen eigenen Kindern; auch ich habe mir die Fragen gestellt, was dieser neue Lebensabschnitt mit uns als Familie und insbesondere mit dem Kind macht. Das Vertrauen in die Schule meiner Kinder und deren Lehrpersonen hat mich sehr darin bestärkt, meine Kinder loszulassen, damit sie ihre eigenen Erfahrungen sammeln dürfen. So gerne, wie sie am Morgen auf den Schulbus huschen, kommen sie am Mittag wieder nach Hause und das ist für mich ein gutes Zeichen. Ich wünsche jedem Kind, dass es mit Freude zur Schule gehen kann, weil es dort willkommen ist und gesehen wird, unabhängig davon, welche Ressourcen es mitbringt.