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Jugend- und Familienberatung Contact – Mobbing geht uns alle an

In unserer Rubrik «Schule im Dialog» geben Menschen aus dem Bildungsbereich persönliche Einblicke in ihren Werdegang und ihren Schulalltag und teilen ihre Gedanken und Ideen zu verschiedenen Themen wie Unterrichtsgestaltung, zukunftsfähige Schulen oder Kompetenzen, die die Schülerinnen und Schüler stark für das Leben machen.

Anja Meinetsberger ist die Leiterin der Jugend- und Familienberatung Contact in Luzern. Im Fokus der Beratungen stehen familiäre, erzieherische, persönliche und soziale Probleme. Wir haben mit Anja Meinetsberger über den Einfluss des eigenen Führungsstils, die Rolle von Social Media und den Mut zur Zivilcourage gesprochen.

Frau Meinetsberger, in der aktuellen Videokampagne „Gwaltig denäbe!“ stellen Sie unter anderem einen Jugendlichen vor, der all seinen Mut zusammennimmt und ein Mädchen anspricht. „Das Schlimmste, was sie sagen kann, ist Nein“, sagt er sich selbst. Aber es kommt ganz anders.

Genau, der Jugendliche wird für seinen Annäherungsversuch von seinen Mitschülerinnen und Mitschülern ausgelacht und über Social Media mit Nachrichten beschossen. Wir sind soziale Wesen und es ist uns wichtig, dazuzugehören. Blicken wir auf unsere Stammesgeschichte zurück, wird klar, dass damals ein Ausschluss aus der Gemeinschaft einem Todesurteil gleichkam. Es ist eine Urangst von uns Menschen, allein zurückgelassen zu werden. Auch heute noch sprechen wir bei Ausgrenzung von einem sozialen Tod und gerade für Jugendliche, die das starke Bedürfnis nach Zugehörigkeit haben, ist Mobbing besonders schlimm. Wir brauchen einen festen Gruppenzusammenhalt, damit wir uns sicher fühlen. Die Frage ist, wie wir diesen erreichen, ohne uns gegen andere Individuen und Gruppen zu wenden.  

Wie könnte der Jugendliche aus dem Video auf die Flut von fiesen Textnachrichten reagieren?

Im Videobeispiel wird der betroffene Jugendliche über das Internet gemobbt – das nennen wir Cybermobbing. Diese Form des Mobbings ist besonders anspruchsvoll. In der Beratung besprechen wir mit den Jugendlichen sehr genau, was im Moment das Wichtigste ist. Grundsätzlich raten wir, nicht auf das zu reagieren, was geschrieben oder gepostet wird. Es ist auch wichtig, dass die Jugendlichen dokumentieren, was über sie gesagt wird. Diskutiert wird oft die Frage nach einem Ausstieg aus der Gruppe. Häufig wird die Sorge laut, dass sie so nicht mehr mitkriegen, was über sie geredet wird. Das auszuhalten, ist sehr schwer. Gleichzeitig ist es gut zu reflektieren, was es mit einem selbst macht, wenn man dauerhaft diesen verletzenden Nachrichten ausgesetzt ist. Möchte jemand trotzdem in der Gruppe bleiben, kann es eine Unterstützung sein, den Chat stummzuschalten oder in den Hintergrund zu verschieben und sich selbst zuliebe die Regel aufzustellen, nur einmal am Tag neue Nachrichten zu lesen. Wir versuchen weiter, Betroffene zu stärken, indem wir erarbeiten, in welchen Lebensbereichen sie noch erfolgreich sind und ob es Gruppen gibt, in denen sie sich weiterhin wohlfühlen.

Es ist also nicht möglich, der Situation ganz zu entfliehen?

Nein, leider nicht. Es ist für Jugendliche ganz schwierig, in solchen Situationen richtig zu reagieren. Egal, wie sie sich verhalten, sie bieten immer eine neue Angriffsfläche für die nächste Mobbing-Attacke. Wir vermitteln den Jugendlichen ein Bewusstsein dafür, dass sie dem ausgeliefert sind und dringend Hilfe von aussen brauchen. Ab einer gewissen Eskalationsstufe lässt sich der Konflikt nicht mehr allein lösen. Es ist die Aufgabe von uns als Beratungsstelle – aber auch von Eltern, der Peer Group und der ganzen Gesellschaft –, Opfer von Mobbing zu unterstützen. Mobbing funktioniert nur, wenn welche mitmachen und viele wegschauen.

Es braucht also eine gewisse Gruppendynamik, damit wir von Mobbing sprechen?

Wir sollten uns bewusst sein, dass die Übergänge fliessend sind. Nicht jeder Konflikt ist gleich Mobbing, überhaupt nicht. Mobbing passiert dort, wo es ein Ungleichgewicht in der Machtverteilung gibt. Ausschlaggebend ist das Gefühl der Ohnmacht, das Betroffene erleben. Sie haben den Eindruck, dass sie machen können, was sie wollen; sie haben keine Chance. An diesem Punkt wird Unterstützung notwendig. Bei der Einordnung gibt es gewisse Kriterien, an denen wir uns orientieren können. Dazu gehört, dass das Verhalten systematisch über einen längeren Zeitraum betrieben wird und sich gegen eine Person richtet. Typisch ist, dass eine Person es schafft, eine Gruppe hinter sich zu scharen und aus dieser Kraft für ihre Attacken gewinnt. Die Betroffenen sind allein gegen eine Übermacht. Die Gruppendynamik macht Mobbing herausfordernd und gleichzeitig ist die Gruppe eine Chance. Beweisen genügend Personen in der Gruppe Zivilcourage, indem sie aussprechen, dass das Verhalten nicht in Ordnung ist und sie damit nicht einverstanden sind, so setzen sie damit ein starkes Zeichen. 

Geht es also auch darum, die Mitläufer der Gruppe zu stärken, damit sie sich getrauen, etwas zu sagen?

Es ist nicht nur ein Stärken, sondern vor allem ein Aufzeigen der eigenen Verantwortung. Das betrifft nicht nur die Jugendlichen; die Eltern haben eine starke Vorbildfunktion, auch wenn Jugendliche oft nicht mehr so viel von ihren Eltern annehmen wollen. Auch eine Mutter oder ein Vater kann eine Mitläuferin oder ein Mitläufer sein, wenn am Esstisch zum Beispiel über eine Mitschülerin oder ein Mitschüler hergezogen wird. «Der Hugo ist schon ein Seltsamer, mit dem würde ich nicht spielen», rät vielleicht ein Vater seinem Sohn. Besser wäre es zu fragen, wie es dem Hugo denn eigentlich geht, wenn alle ständig auf ihm rumhacken. Traut sich irgendjemand in der Klasse, Hugo zu sagen, dass es traurig und unfair ist, dass er bei Gruppenarbeiten immer übrigbleibt?

Ein anderes Beispiel: Die Tochter hat bald Geburtstag und möchte alle Mädchen ausser Anna einladen. Als Eltern haben wir eine Verpflichtung zu sagen, dass das nicht geht. Wir dürfen diese Art von Ausgrenzung nicht akzeptieren. Wer mitläuft, macht sich mitschuldig. Wir können uns fragen, wie wir uns an der Stelle von Hugo oder Anna fühlen würden. So wird schnell klar: Niemand möchte in ihrer Haut stecken.

Inwiefern ist Mobbing auch Verantwortung der Lehrpersonen?

Lehrpersonen möchte ich mitgeben, hellhörig zu sein und ihren Beobachtungen zu trauen. Oft ist es so, dass Lehrpersonen nach dem Aufdecken von schlimmen Mobbing-Geschichten berichten, dass ihnen schon vor einiger Zeit aufgefallen ist, dass das betroffene Kind immer als letztes gewählt wurde, in der Pause nicht mitspielen durfte und bei Gruppenarbeiten immer übriggeblieben ist. Vieles bekommen die Lehrpersonen aber auch gar nicht mit. Umso wichtiger ist es, dass sie hinhören, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher äussert, dass es ihm nicht gut geht oder dass sie direkt nachfragen, wie es jemandem geht, der die Pausen immer allein verbringt. Anzeichen sind auch, wenn ein Kind wiederholt berichtet, dass seine Stifte verschwunden sind, seine Finken versteckt wurden, sein Heft kaputt ist oder es mit Kratzern oder verschmutzten Kleidern aus der Pause zurückkommt. Es ist wichtig, so früh wie möglich zu intervenieren. Lassen Sie betroffene Kinder und Jugendliche nie allein und bleiben Sie hartnäckig dran! Bei Mobbing gilt: Es gibt keine schnellen Lösungen.

Hat Mobbing auch etwas mit meinem Führungsstil als Lehrperson zu tun?

Ja. Je nachdem, wie eine Klasse geführt wird, wird Mobbing begünstigt oder nicht. Das bedeutet nicht, dass eine Lehrperson schuld ist, wenn es zu Mobbing kommt. Auch die Klasse selbst kann ein Risiko- oder Schutzfaktor sein. Ich möchte das gerne an einem Beispiel verdeutlichen: In jedem Klassenzimmer muss irgendwie bestimmt werden, wer neben wem sitzt. Es gibt Lehrpersonen, die die Platzwahl den Schülerinnen und Schülern überlassen. Damit wird der Klasse eine grosse Verantwortung übergeben. Wird dieser Prozess gut begleitet, gelingt die Platzwahl, ohne dass sich ein Kind ausgeschlossen fühlt. Entscheidend ist die Intention der Lehrperson, dass die Platzwahl fair sein muss. Das kann bedeuten, dass jeder einmal neben jedem sitzen muss oder dass Jungs und Mädchen durchmischt werden. Sind diese Kriterien nicht erfüllt, greift die Lehrperson ein. Wieder andere Lehrpersonen entscheiden sich, die Plätze selbst zuzuteilen. Auch das ist richtig. Entscheidend ist wiederum, dass die Lehrperson die Gruppe im Blick behält. Es spielt also keine Rolle, ob man eher autoritär oder demokratisch führt; wichtiger ist, dass sich die Lehrpersonen ihrer Rolle bewusst sind. Ich finde das Bild sehr passend, dass die Lehrpersonen Kapitäne auf dem Schiff sind und die Klasse ist die Crew. Je klarer die Kapitänin ist, desto eher bleibt das Schiff auf Kurs.

Haben Sie den Eindruck, dass Mobbing zugenommen hat?

Das kann ich nicht genau sagen. Mit Social Media hat das Mobbing sicher intensivere Formen angenommen. Dadurch bleibt das Mobbing nicht auf das Schulsetting begrenzt, sondern wird über das Smartphone in den Fussballverein, an den Küchentisch und sogar bis unter die Bettdecke mitgenommen. Heute haben Betroffene oft gar keine Verschnaufpause mehr.

Gibt es Kinder und Jugendliche, die besonders anfällig dafür sind, Opfer oder Täter zu werden?

Es gibt gewisse Verhaltensweisen, die eher dazu führen, dass jemand gemobbt wird, aber grundsätzlich kann es jede und jeden treffen. Täterinnen und Täter geniessen oft die Anerkennung, die sie für ihr Verhalten bekommen. Je grösser die Gruppe ist, die hinter einem steht, desto besser fühlt man sich. Andere zu mobben kann auch eine Strategie sein, um von sich selbst abzulenken und zu verhindern, selbst in die Rolle des Opfers gedrängt zu werden. Mobbing darf sich nicht lohnen. Es gilt also, die Anerkennung für unerwünschte Verhaltensweisen zu entziehen und gleichzeitig prosoziales Verhalten zu belohnen. Wir verlangen dabei viel von den Jugendlichen; nicht einmal wir Erwachsene bringen besonders oft den Mut auf, uns für Schwächere einzusetzen.

Was können Lehrpersonen tun, damit es gar nicht erst zu Mobbing in ihrem Klassenzimmer kommt?

Lehrpersonen tun bereits ganz viel. Ein gutes Klassenklima hilft sicher und auch, dass die Kinder und Jugendlichen wissen, dass sie sich ihrer Lehrperson anvertrauen dürfen. Ich rate Lehrpersonen, sich mit Fachpersonen wie z. B. Schulsozialarbeitenden auszutauschen, wenn sie etwas wahrnehmen, und gemeinsam zu erarbeiten, wie weiter vorgegangen wird. Es braucht einen langen Atem, um Mobbing einzudämmen. Es kann eine erste Beruhigung geben und dann erneut – vielleicht in einer anderen Form – aufflammen.

Was ist das Wichtigste, was Kinder und Jugendliche in der Schule lernen sollten?

Es geht darum, dass Kinder lernen, gesund zusammen unterwegs zu sein; dass sie in echten Kontakt miteinander treten. Sie sollen lernen, einander zu helfen und sich gegenseitig zu unterstützen und füreinander da zu sein. Ich glaube, dass das meiste Wissen überhaupt nichts nützt, wenn man nicht in der Lage ist, mit seinen Mitmenschen fair umzugehen und für andere einzustehen. Passiert Mobbing im Klassenzimmer, ist es wichtig, das Leid anzuerkennen und gemeinsam auf die Suche nach Lösungen zu gehen, die Betroffene schützen und stützen.