«Lernwält» - die praxisorientierte Friedensschule
Denis Bitterli studierte Geschichte und Geografie und unterrichtete nach seinem Studium erst an einer Regelschule in Baselland. Bereits als Lehrer und später als Schulleiter war ihm die Friedensbildung ein zentrales Anliegen. Weiter hat er sich zum Kunsttherapeuten ausgebildet. Er setzte kreative Elemente im Unterricht um, entwickelte mit seinen Schülerinnen und Schülern Heldinnen- und Heldengeschichten und förderte den Austausch zwischen der Schule, den Schülerinnen und Schülern und den Eltern. 2018 gründete er seine eigene Privatschule – die «Lernwält». Hier steht die Stärkung des Kindes im Zentrum. Wir haben uns mit Denis Bitterli getroffen und über die Beziehungsqualität von Delfinen, 100-Prozent-Entscheide und erlebnisorientierten Unterricht gesprochen.
Denis, was hat dich dazu inspiriert, deine eigene Schule zu gründen?
Ich habe gemerkt, dass ich als Lehrer und später als Schulleiter an einer Volksschule immer wieder an Grenzen gestossen bin. Zudem ist mir als Junglehrer eine innere Unruhe bei den Kindern aufgefallen, obwohl sie nach aussen hin ruhig arbeiteten. Mir stellte sich die Frage, wie ich den Kindern nicht nur den Inhalt vermitteln, sondern sie auch als Menschen abholen kann. Um den inneren Dialog zu stärken, habe ich mich kreativen Ansätzen aus meiner Ausbildung zum Kunsttherapeuten bedient. Die Stärkung der Selbst- und Sozialkompetenzen sollten mehr Raum einnehmen in meinem Unterricht. In diesem Rahmen entstand auch die «Talenta»; ein Fach, in dem jedes Kind sein eigenes Projekt verwirklichen durfte. Besonders gut erinnere ich mich noch an ein Projekt, in dem es um Delfine ging. Ich war neugierig und wollte von dem Kind wissen, wieso gerade der Delfin so faszinierend sei. Das Kind erklärte mir, dass es das Beziehungsvolle der Delfine anspreche. Delfine gleiten als Gemeinschaft durch das Wasser. Im Gespräch äusserte das Kind, dass es in der Schule oft einen Leistungsdruck verspüre und es sich wünsche, mehr wie ein Delfin das Getragen-Sein in einer Gruppe zu spüren. Durch das Erarbeiten von Delfin-Geschichten konnte sich das Kind viel Leichtigkeit erarbeiten, die dem Leistungsdruck etwas entgegensetzen konnte.
Das Kind konnte sich mit dem Delfin identifizieren und so auch etwas über sich selbst lernen.
Genau. Zudem haben die Kinder im Theaterunterricht eigene Figuren entwickelt. Diese standen immer in einem Zusammenhang mit ihrer eigenen Seelenthematik. Wir suchten gemeinsam nach Happyends. Wie schaffen es die Heldinnen und Helden, ihre Herausforderungen zu meistern? Diese selbst geschaffenen Theaterstücke hatten positive Auswirkungen auf das Arbeits- und Sozialverhalten der Kinder. Der Theaterunterricht war keine Therapie und doch konnten Themen auf kreative Art und Weise bearbeitet werden und die Resilienz der Kinder wurde gestärkt. In den Momenten, in denen ich den Mehrwert solcher Projekte spüren und auch sehen konnte, kam bei mir der Gedanke auf, dass es schön wäre, eine Schule zu bauen, in der die Selbstkompetenz im Zentrum steht und von dort aus die Sozial- und Fachkompetenzen erschlossen werden.
Bevor du deine eigene Schule gegründet hast, bist du Schulleiter an einer Volksschule geworden, richtig?
Ja, richtig. Als ich Schulleiter wurde, habe ich schnell erkannt, wie wichtig es ist, im Dialog mit den Menschen zu sein. Nicht nur mit den Schülerinnen und Schülern, sondern auch mit ihren Lehrpersonen und Eltern. Ich stand vor der Herausforderung, alle Bedürfnisse und Interessen, die in einer Schule entstehen und an sie herangetragen werden, miteinander zu verbinden. Das dialogische Modell begleitete mich bei diesem Unterfangen. Als Schulleiter habe ich gemeinsam mit den Kindern und ihren Eltern die Grundlagen für unsere Kooperation ausformuliert und diese Schritt für Schritt umgesetzt. Das tat dem Schullalltag unglaublich gut. Aber auch in dieser Rolle bin ich an Grenzen gestossen. An einer Volksschule gibt es Bedingungen; es gibt Voraussetzungen, die politisch ausgehandelt wurden und an die ich mich halten musste. Wieder kam der Gedanke auf, dass es schön wäre, eine eigene Schule ins Leben zu rufen. Eine Friedensschule, die auf dem dialogischen Modell aufbaut. So wurde 2018 die «Lernwält» gegründet und seither gibt es sie. Es ist eine dynamische Schule, die sich ständig in einem Weiterentwicklungsprozess befindet.
Wie sieht der Schulalltag eines Kindes aus, das die «Lernwält» besucht?
Die Schülerinnen und Schüler treffen zwischen 8:00 und 8:30 Uhr an der Schule ein. Der Morgen ist in zwei Lernsequenzen à 90 Minuten aufgeteilt. Am Mittag essen wir zusammen und am Nachmittag ist Unterrichts- und Lernzeit. Die Kinder gestalten das Schulprogramm aktiv mit. Zu Beginn eines Quartals besprechen wir, welches Thema wir erarbeiten werden. Die Kinder bringen ihre Wünsche und die Bildungsgestalterinnen und Bildungsgestalter die Inhalte des Lehrplans ein. Auch beim Stundenplan haben die Kinder ein Mitspracherecht. Die Kinder haben sich zum Beispiel Sportunterricht gewünscht. Aktuell dürfen wir am Dienstag die Turnhalle einer Regelschule dafür benutzen. Am Montagnachmittag gehen wir in den Wald. Am Dienstag haben wir den Kreativnachmittag, an dem die Kinder gestalterisch arbeiten. Am Donnerstagmorgen findet das Sprachatelier statt. Wir haben bemerkt, dass das Interesse an Französisch eher bescheiden ist, weswegen wir dies aktiv fördern, weil wir wissen, dass Fremdsprachen später gefragt sind und auch weil die Vielsprachigkeit eine Bedeutung in der Friedensbildung hat. Eine Besonderheit der «Lernwält»: Bei uns gibt es keine Hausaufgaben.
Wie bereiten sich die Schülerinnen und Schüler auf Prüfungen vor?
Bei uns gibt es keine klassischen Prüfungen. Wir nehmen zwar an kantonalen Checks wie den Orientierungsarbeiten teil, aber grundsätzlich führen wir individuelle Kompetenznachweise durch. Diese finden statt, wenn ein Kind bereit ist, sein Wissen zu zeigen. Im Anschluss besprechen wir den Kompetenznachweis mit dem Kind. Es schätzt sich selbst ein und die Bildungsgestalterinnen und Bildungsgestalter geben ein Feedback. Das Kind kann sich auch von Klassenkameradinnen und Klassenkameraden eine Rückmeldung einholen. Wenn ein Kind etwas noch nicht kann, übt es weiter, bis es gelingt. Dabei orientieren sich die Schülerinnen und Schüler an der Kompetenzlandkarte. Auf dieser sind alle Bildungsziele ersichtlich – für die Kleinen mit Bildchen. Wurde ein Thema erschlossen, malen wir den Bereich zusammen aus oder kreieren ein Poster.
Woher kommen diese Bildungsziele?
Wir orientieren uns beim Formulieren der Bildungsziele am Lehrplan 21 und lassen zusätzlich eigene einfliessen. Dazu gehören die Sozial- und Selbstkompetenzen, die an unserer Schule einen grossen Stellenwert haben. Und schliesslich können die Kinder auch eigene Themen auf die Kompetenzlandkarte schreiben oder zeichnen.
Bekommen die Kinder an der «Lernwält» Zeugnisnoten?
Wenn die Eltern das möchten, ja. Zusätzlich geben wir immer auch die Indikatoren und Standards an, damit transparent ersichtlich ist, was eine bestimmte Note bedeutet und wie wir uns auf diese Note geeinigt haben. Wir schreiben zusätzlich Lernberichte, in denen wir festhalten, was die Kinder können.
An der «Lernwält» lebt ihr das Prinzip der 100-Prozent-Entscheide. Heisst das, dass der Sportunterricht nur stattfindet, wenn alle Kinder damit einverstanden sind?
Wenn ein Kind sagt, dass es keinen Sportunterricht möchte, dann nehmen wir uns Zeit, mit dem Kind in einen Dialog zu treten. Dabei möchten wir herausfinden, warum das Kind keinen Sport machen möchte. Was ist die Not, die hinter diesem Anliegen steckt? Vielleicht hat das Kind Angst vor den grossen Bällen oder vor den starken Schüssen der älteren Kinder. Wenn das geklärt ist, schauen wir gemeinsam, welche Bewegungsangebote das Kind braucht, damit es sich wohlfühlt. Grundsätzlich gilt: Wenn wir zusammen sprechen, finden wir eine Synthese oder eine Verbindung.
Das Schulmotto lautet «Das Leben bildet». Was verstehst du darunter?
Unser Anspruch ist, dass wir den Unterricht praxisorientiert und alltagsnah gestalten. Wenn wir das Thema Hund bearbeiten, dann arbeiten wir wirklich mit Hunden. So besuchen wir beispielsweise eine Hundeschule. Wir lernen alltagsnah und gehen viel nach draussen. Wir lernen überall – auch zuhause oder auf dem Schulweg. Lernen geschieht mit allen Sinnen, handlungs- und erlebnisorientiert. Die Selbstreflexion ist dabei ein wichtiger zweiter Schritt: Die Kinder fragen sich, warum etwas gelungen oder nicht gelungen ist. Sie fragen sich auch, wie sie zu dem Wissen kommen, das sie sich erarbeiten möchten.
Ist der Arbeitsaufwand als Bildungsgestalterin oder Bildungsgestalter grösser als der einer Lehrperson an einer Volksschule?
Der Aufwand ist sicher anders. Bei uns fallen viele soziale Probleme wie Mobbing weg, die an einer Staatschule sehr anstrengend sein können. Wir sind von Anfang an mit den Kindern im Austausch und stärken sie. Bei der Vorbereitung des Unterrichts fliesst stärker die Überlegung ein, wie das Thema draussen in der Welt erschlossen werden kann. Es sind andere Aufgabenstellungen, die die Bildungsgestalterinnen und Bildungsgestalter erarbeiten. Gleichzeitig müssen sie einen guten Überblick über die Kompetenzlandkarte haben, damit sie die Kinder durch diese Welt führen können. Das ganze Schulmaterial befindet sich in unserem Lernraum und die Bildungsgestalterinnen und Bildungsgestalter bieten entsprechend den Interessen und dem Wissensstand der Kinder Lerninhalte an.
Eine weitere Besonderheit der Schule ist, dass die Eltern miteinbezogen werden. Warum ist dir das wichtig?
Probleme entstehen häufig dort, wo der Dialog zwischen Elternhaus und Schule nicht gelingt. Deswegen ist es wichtig, dass die Eltern und die Schule von Anfang an miteinander kooperieren. Wir führen einmal pro Quartal ein Gespräch mit den Eltern und ihren Kindern. Um die Kooperation sicherzustellen, gibt es weiter die Elterngruppen, die sich jeden Monat treffen und sich über mögliche Schulprojekte austauschen. Dann gibt es den Wissenspool, wo die Eltern ihre Berufs- und Alltagskompetenzen einbringen. So wird zum Beispiel eine Mutter, die gerne Französisch spricht, ab Januar eine Lerngruppe leiten, in der Konversationsfähigkeiten trainiert werden. Wir bieten zudem eine Weiterbildung zur Bildungsgestalterin bzw. zum Bildungsgestalter an. Für diesen Lehrgang haben sich auch Eltern angemeldet, die wir in unserem Konzept ausbilden.
Hast du Tipps für Lehrpersonen an Volksschulen, die gerne die Prinzipien der Friedensschule umsetzen möchten?
An einer Volksschule hast du viele Gestaltungsmöglichkeiten. So könntest du eine eigene Elterngruppe gründen, um die Zusammenarbeit mit den Eltern zu stärken. Wenn dir die Selbstkompetenz deiner Kinder besonders wichtig ist, könntest du kreativitätsfördernd oder resilienzstärkend arbeiten. Auch die Gewaltfreie Kommunikation oder das dialogische Modell kannst du einführen.
Bereits als ich an einer Volksschule gearbeitet habe, habe ich zu Quartalsbeginn die Wünsche meiner Schülerinnen und Schüler gesammelt. So entstehen aus den Anliegen und den Vorgaben des Lehrplans ganz eigene Themen und Aufgaben. Es können auch konkrete, lebensnahe Projekte umgesetzt werden. Die Noten könntest du mit einem Portfolio ergänzen, in dem die Kinder ausweisen, wo sie stehen und was sie sich erarbeitet haben. So wird ersichtlich, wie die Kinder arbeiten, wer sie sind und welche Fertigkeiten und Fähigkeiten sie mitbringen.
Wie gelingt eine Erziehung in Freiheit?
Die Friedensbildung ist stark damit verbunden, dass die Kinder lernen, sich selbst zu reflektieren. «Wer bin ich?», «Was mache ich?» und «Was tut mir gut?» sind wichtige Fragen. Ich erlebe, dass viele Eltern und Lehrpersonen eine klare Vorstellung davon haben, wie ihre Kinder leben und sein sollten. So vermitteln sie ihrem Kind zum Beispiel, dass es anständig sein soll. Aber warum eigentlich? Was steckt hinter diesem «Anständig-Sein»? Erziehung in Freiheit geschieht dort, wo die eigenen Nöte in Worte gefasst werden können und die Kinder damit auch wirklich gesehen und gehört werden. Miteinander im Austausch zu sein, das ist freiheits- und gemeinschaftsförderlich.
Oft hört man ja als Kritikpunkt an alternativen Schulen: «Spätestens, wenn die Kinder eine Lehre anfangen, werden sie wieder in einer Welt unterwegs sein, in der sie benotet werden, gewisse Leistungen erbringen müssen und bestimmte Regeln gelten.» Sind die Schülerinnen und Schüler an der «Lernwält» darauf vorbereitet?
Wenn ein Kind in einer Privatschule aufwächst, erfährt es eine Schulkultur, die sich von der der Volksschulen unterscheidet. Steht ein Wechsel im Schulkontext bevor, ist es wichtig, über den Wechsel zu sprechen und mit Übungen darauf vorzubereiten. In einer Lehre oder einer weiterführenden Schule werden die Schülerinnen und Schüler damit konfrontiert werden, dass sie gewisse Aufträge ausführen müssen, die sie im ersten Moment vielleicht als sinnlos erleben. Wir üben mit ihnen, dass sie auch in solchen Aufträgen für sich einen Sinn entdecken können.
Auch wenn ein Kind innerhalb der Volksschule die Schulklasse wechselt, muss es sich im neuen Klassenverband erst einleben und die neuen Gesetzmässigkeiten der Gruppe kennenlernen. Wechsel gehören dazu – wichtig ist nur, dass diese thematisiert werden.
Was ist das Wichtigste, was Kinder in der Schule lernen sollten?
Ein guter Selbstwert ist entscheidend. Und Softskills wie Kommunikationsfähigkeiten. Ich finde, das sind Kompetenzen, die in unserer Welt stärker gefragt sind als reines Fachwissen. Der Dialog ist das Zaubermittel. Wer dieses beherrscht, hat es viel einfacher.
Was wünschst du dir für die Bildungslandschaft der Schweiz?
Ich wünsche mir, dass an den Schulen eine Friedenskultur entwickelt wird. Es gibt bereits viele gute Impulse, aber die Schule darf noch mehr auf eine Art konzipiert werden, dass Ko-Kreationen stärker möglich werden. Lernen soll sinnhaft und potenzialentwickelnd sein. Ich wünsche mir auch, dass das Vertrauen in unsere Kinder wächst. Wenn wir unsere Kinder bestärken, begleiten und unterstützen, reifen sie zu starken Erwachsenen heran.